Der Schreiadler (Clanga pomarina) fällt durch seine besondere Brutbiologie auf, die man auch bei anderen fleischfressenden Vögeln findet. In der Ornithologie wird sie als Kainismus bezeichnet. In Anlehnung an die christliche Mythologie, in der der erstgeborene Kain seinen Bruder Abel tötet, überlebt das zweite Küken in der Regel nicht. Dies hat mehrere Gründe. Das zweite Ei im Gelege des Schreiadlers ist deutlich kleiner, der Jungvogel schlüpft ein paar Tage später. Das deutlich weiterentwickelte Geschwister zeigt sich so aggressiv, dass der jüngere Vogel an der Nahrungsverteilung durch das Weibchen nicht mehr teilnimmt und letztlich eingeht. Nahrungsmangel spielt dabei keine Rolle.
Es ist schwer, dieses Phänomen zu erklären, zumal der Bruterfolg des Schreiadlers gering ist. Nur 0,6 Jungvögel werden im Schnitt pro Brutpaar und Jahr flügge. Es wird vermutet, dass der Schreiadler sich in einem evolutionären Schritt befindet, von einem Zwei-Ei-Gelege zu einem Ein-Ei-Gelege. Bei dem geringen Bruterfolg und gutem Nahrungsangebot eine schwer nachvollziehbare These.
Zunutze macht man sich dieses Phänomen beim Schutz des Schreiadlers, der in manchen Regionen vom Aussterben bedroht ist. Der jüngere Vogel wird ausgehorstet und von Hand aufgezogen.
Größe: 55–67 cm
Gewicht: M 1000–1400 g; W 1300–2200 g
Flügelspannweite: 146–168 cm
Verbreitung: Ost- und Südosteuropa lückenhaft über die Türkei und den Kaukasus bis in die südlichen kaspischen Tiefebenen
Verbreitungsschwerpunkt in Europa:
Nahrung: kleine Säugetiere, primär Wühlmäuse, Amphibien, kl. Vögel, selten Insekten
Lebensraum: bewaldete Flusstäler und feuchte Wälder in der Nähe von Wiesen und Feldern
Zugverhalten: Langstreckenzieher, überwintert südlich der Sahara in Afrika
Brutzeit: April - August
Nest: Bäume, in 12-15 m Höhe,
Fortpflanzung: monogam, vermutlich über Jahre, 2 (1-3) Eier, 1 Brut pro Jahr, Brutdauer 36-41 Tage, durch das Weibchen, flügge 60-80 Tage
Bruterfolg: 0,6-0,7 flügge Küken je Paar
Höchstalter: 26 Jahre
Bestand: 120-130 Brutpaare in Deutschland, 17-23 Tausend Brutpaare in Europa, 48-63 Tausend Vögel weltweit
Status: nicht gefährdet, Trend: stabil
In Deutschland: wegen der geringen Zahl Brutpaare vom Aussterben bedroht, Trend stabil
In der Regel stumm, während der Balzzeit jedoch sehr ruffreudig. Die sehr weittragende Rufreihe soll entfernt an das Kläffen eines Hundes erinnern und hat zum deutschen Artnamen, Schreiadler, geführt. Am Nest empfängt das Weibchen das Männchen mit bettelnden Rufen.
Der Schreiadler ist in Deutschland ein Brutvogel feuchter Laub- und Mischwälder, bevorzugt in der Nähe einer strukturreichen Flussniederung. Seine Beute erlegt der Schreiadler in der Regel zu Fuß. Amphibien und Kleinsäuger gehören zu seinem Nahrungsspektrum, das er bevorzugt in der offenen Weidelandschaft erlegt.
Solche Lebensräume finden sich noch in der nordostdeutschen Tiefebene, entlang der Peene, der Recknitz, dem Randowbruch der brandenburgischen Uckermark, an den Feldberger oder Müritzer Seen.
In Deutschland ist der Schreiadler ein Zugvogel, der südöstlich der Sahara in Afrika überwintert. Im September werden die Brutgebiete verlassen. Ab April werden die Reviere wieder besetzt. Vögel der deutschen Population ziehen, wie die meisten Schreiadler Osteuropas, über den Bosporus und das Niltal nach Afrika. Satellitentelemetrisch erfasst ist aber auch ein Abzug in südwestlicher Richtung junger Schreiadler bis zur Elfenbeinküste.
In Deutschland brütet der sehr störungsanfällige Schreiadler nur noch in den Bundesländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Ein isoliertes Vorkommen existiert darüber hinaus am Ostrand des Harzes in Sachsen-Anhalt. In der waldreichen norddeutschen Niedermoorlandschaft war er im 19. Jahrhundert ein nicht häufiger, aber weitverbreiteter Brutvogel. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich die Art sukzessiv in den Osten von Deutschland zurückgezogen.
Die Bestandsentwicklung des Schreiadlers in Deutschland wird langfristig als stabil eingestuft und hat in den vergangenen Jahren sogar leicht zugenommen. Dem Schreiadler kommt ein aufwendiges Schutzprogramm zugute, das 2004 gestartet wurde. Dazu wird das jüngere der beiden Küken dem Nest entnommen und mit der Hand aufgezogen. Das ist möglich, da der jüngere Vogel in der Regel die ersten Tage nicht überlebt. Gestützt wird das Programm durch Jungvögel aus Lettland und Polen. Auch hier wurde jeweils der zweite Jungvogel einer stabilen Population entnommen. Bis 2023 sind 165 Jungvögel in Deutschland ausgewildert worden.
Durch Deutschland verläuft zurzeit die westliche Grenze des Verbreitungsgebietes.
Im 19. Jahrhundert hat der Schreiadler vermutlich in Österreich gebrütet. Sehr wahrscheinlich ist ein Brutvorkommen in den Donau-Auen nordöstlich von Wien bis etwa 1850. Alle Brutvorkommen sind jedoch nicht ausreichend dokumentiert.
Beobachtet werden kann der Schreiadler während des Zuges. Es werden jedoch nur wenige Vögel jährlich festgestellt auf ihrem Weg von oder in das afrikanische Winterquartier.
In den letzten Jahren kam es gelegentlich zu Sommerbeobachtungen im Waldviertel, die vermutlich mit der Population in Tschechien zusammenhängen.
In der Schweiz wird der Schreiadler sporadisch und erst in den vergangenen Jahren auch jährlich mit oft nur einem Nachweis festgestellt. Nur sehr wenige Schreiadler ziehen über Gibraltar oder Malta nach Afrika in die Überwinterung. Die Schweiz liegt nicht auf dem Zugweg. Beobachtet werden die Vögel im April und Mai und im September und Oktober.
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